Chelsea Hotel
New York
Fotos 1969 – 1971
Vorwort
Ein Hotel ist ein von festgesetzten und unter vorformulierten Rahmenbedingungen bestehender Formkomplex. Formen, die sich in klaren Gehwegen, uniformierten Zimmergestaltungen, vorportionierten Speisen und am Niveau des Hotels gemessenen Freizeitaktivitäten dem jeweiligen Besuchenden aufzeigen. Jeder Aufenthalt funktioniert nach dem immerwährenden Prinzip der Wiederholung und endet stets an einem Nullpunkt, um auch zukünftigen Gästen eine identische Erfahrung generieren zu können. Das Credo der allgemeinen Zufriedenheit ist oberstes Gebot. Nur wenige Dinge passieren daher zufällig und wenn sie geschehen, dann meist negativ konnotiert. Die Spuren der Vergangenheit, die die vorherigen Gäste hinterlassen haben, will bekanntlich niemand zu Gesicht bekommen. Sie stören die eigene Anonymität und rufen in unser Gedächtnis, dass schon jemand anderes in unserem Bett geschlafen, das Badezimmer benutzt oder die Fenster in dem Drang nach Frischluft geöffnet hat.
Der Schweizer Künstler Albert Schöpflin (*1943–, Künstlername: „Scopin“) lebte in den Jahren von 1969–1971 in einem solchen Hotelkomplex, der sich wie kein anderer den gesellschaftlichen und formgebenden Erwartungshaltungen entzog. Das Chelsea-Hotel in New York, heute nur noch ein Schatten seiner einstigen Erscheinung, ist ein von Mythen und Legenden durchzogener Ort. Für Schöpflin wurde es zum Platz einer fotografischen Anteilnahme und Sichtbarmachung. Dieses Hotel, das fern der gängigen Normen geführt und seit Anbeginn seines Bestehens ein Rückzugsort für Diversitäten war, wurde für Schöpflin zum Motiv seiner Wahl. Persönlichkeiten wie der Künstler Robert Mapplethorpe (1946–1989), die Künstlerin Patti Smith (*1946–) oder der Regisseur Wim Wenders (*1945–), die im Chelsea-Hotel lebten oder gastierten, wurden in zahlreichen Aufnahmen von Schöpflin innerhalb des Hotels festgehalten und zu einer immerwährenden Präsenz in den Bildern überführt. Doch so interessant die heute bekannten Figuren auf den Fotografien auch erscheinen mögen, so deutlich zeigt sich Schöpflins Drang einer Dekonstruktion des Erwartbaren und der reinen Dokumentation. Die Kamera nimmt nicht die Rolle eines strengen Chronisten einer für Schöpflin gegenwärtigen Zeit ein, sondern macht mit Hilfe seines Blickes aus einer vergangene Realität eine fotografische Wirklichkeit, die auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Aktualität und Eindringlichkeit verloren hat.
Albert Schöpflin nutzte das Motiv des Chelsea-Hotels um mit Hinzunahme der Fotografie etwas sichtbar werden zu lassen, was umfangreicher ist als das Chelsea-Hotel in all seinen architektonischen Ausmaßen. Er nahm an einem Ort, der den non-konformistischen Rahmen setzte, das freie und ungezügelte menschliche Miteinander mit seiner Kamera auf und ließ einen Teil davon in den Fotografien immerfort zurück. Seine Arbeiten lassen bisweilen klar formulierte Botschaften, eindeutige Informationsabsichten oder technisch-kompositorische Feinheiten vermissen. Sie verdeutlichen aber gerade durch diese heutzutage häufig als bildimmanenten Makel formulierte Abwesenheit, dass erst im scheinbaren Absenz der Drang nach Einsicht, Auseinandersetzung und eigener Anteilnahme zu einer Initiierung gebracht werden kann.
Die Werke Albert Schöpflins lassen uns daran erinnern, dass eine Spur, so unklar sie bisweilen auch sein mag, stets benötigt wird, um der eigentlichen Sache letzten Endes irgendwann habhaft zu werden.
Chelsea Hotel 1969–1971 | Albert Schöpflin
Dokumentation oder Teilhabe?
Fotografien sind von Kontexten durchzogene Träger einer gegenseitig bedingten Absicht auf Vermittlung. In diesem Akt der Vermittlung wird die Rolle der Betrachtenden vermehrt durch einen unaufhaltsamen Drang der Wiedererkennung geleitet. Jedes in den Fotografien auszumachende menschlich anmutende Bildsujet impliziert dabei eine unumgängliche personifizierend-identifizierende Fragestellung: Um wen handelt es sich bei den Personen in den Bildern?
Auch die Fotografien des Schweizer Künstlers Albert Schöpflin (*1943–, Künstlername: »Scopin«) werden von diesem Credo grundlegend beeinflusst. Einzelne Aufnahmen zeigen Persönlichkeiten wie die Künstlerin Patti Smith (*1946–), den Künstler Robert Mapplethorpe (1946–1989) oder auch den Regisseur Wim Wenders (*1945–) in fast nebensächlich auftauchender und dennoch präsenter Weise. In dieser Form der an Personen fixierten Bilderschließung verdeutlicht sich jedoch eine grundlegende Problematik: Das eigentliche Potential der Fotografien Albert Schöpflins wird so nicht ersichtlich.
Die Masse an gegenwärtig einzusehenden Bildern übersteigt bisweilen die Aufnahmekapazitäten der Betrachtenden. Es kann nicht alles gesehen, überblickt, verinnerlicht oder vollständig erschlossen werden, wodurch eine selektierende und zugleich Sicherheit generierende Betrachtung erlernt wurde. Fotografien müssen dadurch bedingt in perfekt anmutender Manier erscheinen und ihren gesamten Informationsgehalt sofortig an uns weitergeben. Erst dann kann sich der Blick in Sicherheit durch das nun auch in seinem Inhalt vollständig verflachte Medium begeben.
Albert Schöpflins Fotografien verlaufen diametral dieser gegenwärtigen Entwicklung. Ein vollständiges Wiedererkennen und die dadurch bestehende Sicherheit in der Erschließung wird von ihnen nie vollends vermittelt. Immer wieder bleibt der Blick an unklaren, unscharfen, nicht perfekten und letztendlich fragenaufwerfenden Leerstellen in den zahlreichen Aufnahmen hängen. Der Betrachtende wird dabei jedoch nicht mit fotografischen Makeln oder der Nichtkönnerschaft Schöpflins konfrontiert. Die Aufnahmen zeigen vielmehr den in ihnen gebannten und immerfort verinnerlichten Blick eines Künstlers, der das menschliche Zusammenleben nicht dokumentieren, sondern mit Hinzunahme seiner Kamera daran teilhaben wollte. Seine Bilder sind fotografische Momente einer abstrahierten Realität der Vergangenheit, die in gegenwärtiger Wiederentdeckung nichts an ihrer Aktualität verloren hat. Sie lassen uns daran erinnern, dass das Leben nicht in seiner vollen Ganzheit fassbar, aber mit Hilfe von Kunst, mit den Fotografien Albert Schöpflins, in fragmentarischen Teilen erfahrbar gemacht werden kann.
Alexander Leinemann
Beitragsbild: Albert Schöpflin: Ladenpassage, 1969-71 (Abzug 2020)
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